
Mont Chaberton: Zwischen Stacheldraht und Sicherungsseil
Mit dem E‑MTB‑Tour auf den Mont Chaberton: über ehemalige Militärtrassen zu einer Krone aus Beton - eine Lektion in Haltung.
„Ihr wollt das aber nicht fahren, oder?“ Zwei Wanderer drücken sich an der Felswand vorbei, Hände am Sicherungsseil. Ihr Blick spricht Bände: Mountainbiken? Hier? Ja – die Schlüsselstelle vor uns misst Lenkerbreite, links Luft, rechts Fels. Absturz tabu. Und ja: Genau hier wollen wir fahren.

Ein paar hundert Meter später endet das Seil; dafür säumen drei Reihen Stacheldraht den Pfad. Die Auffahrt fühlt sich an wie eine Zeitreise in ein Kriegsgebiet. Ich war nie beim Militär; Krieg kenne ich nur aus Filmen, den Nachrichten und Erzählungen von Freunden, die in Afghanistan dienten. Hier oben, knapp unter dreitausend Metern, rückt das Thema unangenehm nah.
Und doch: friedliches Bergidyll. Menschen steigen gemeinsam zum Gipfel, reichen sich an heiklen Stellen die Hände, lachen und fallen sich oben in die Arme. Der Mont Chaberton zeigt beides: was Menschen einander antun – und was sie miteinander schaffen.
Mont Chaberton 3.131 m – Ein Berg als Fenster in die Vergangenheit
Der Mont Chaberton misst 3.131 m. Ab 1898 wird sein Kopf plan gesprengt, um acht gigantische Geschütztürme zu tragen – damals das höchstgelegene Fort Europas. Am 21. Juni 1940 zerlegen französische 280-mm-Mörser in wenigen Stunden, was die italienische Armee über Jahre aufgebaut hat: erst trifft es die Seilbahn, dann die Stromversorgung, kurz darauf fallen sechs der acht Türme. Am 24. Juni schweigt der Berg. 1947 wird dann die Grenze verschoben: Der Gipfel gehört seitdem Frankreich. Heute führt ein schmaler Pfad über die Relikte. Eine Tour, die Beine fordert – und Fragen stellt.

Fenils ist unser Start
Das Genio Militare trassierte einst eine rund 14-km-Militärstrasse mit 72 Kehren bis weit hinauf – seit 1987 ist die einstige Strasse für Fahrzeuge gesperrt. Was bleibt, zieht wie eine Narbe durch den Hang. Vielerorts hält der Weg nur Reifenbreite; Erosion frisst Rinnen, Starkregen räumt ab. Die Natur holt sich zurück, was ihr gehört.

Das erste Drittel ist zahm. Dann wird’s ernst. Ich fahre E-MTB und bin froh darum. Der Schotter liegt lose, herabgestürzte Felsblöcke stören den Tritt und die Steigung zieht zunehmend an. Wir erreichen eine neuralgische Stelle der Tour. Am „gespaltenen Fels“ bricht die alte Strasse ab; ein Felssporn ragt wie ein Dolch in die Luft, daneben läuft das Fixseil als Handlauf. Ich rolle an, der Lenker knapp am Fels. Schrittgeschwindigkeit. Mein Blick auf die Linie, nicht aufs Seil. Bloss nicht den Fels touchieren. Ein Tritt, ein kurzer Impuls – drüben. Mein Puls hämmert, der Kopf ist klar.
Col du Chaberton und der Weg zum Gipfel
Nach zahlreichen Serpentinen erreichen wir den Sattel, dort, wo früher Motorräder kehrtmachten. Ab hier wird’s richtig steil. In der Flanke liegen Schützenstände; an Pfosten hängt Stacheldraht. Relikte eines Plans, der Unbezwingbarkeit zeigen sollte – und am Ende wenig nutzte.

Der Weg zum Gipfel zieht über Schutt und alte Tritte. Dann liegt die Platte vor mir: ein topfebener Platz, teils Beton, ein paar tausend Quadratmeter gross – die Fläche eines Fussballfeldes. Turmstümpfe stehen im Licht. Ich setze mich auf die Kante, stelle das Bike ab, trinke. Das Wasser schmeckt nach Metall. Vielleicht die Flasche. Vielleicht der Ort.
Ich drehe mich im Kreis:
• Mont Blanc im Norden
• Barre des Écrins und La Meije im Westen
• Gran Paradiso im Nordosten
• Rocciamelone gegenüber
• Monviso im Süden/Südosten
An selten glasklaren Tagen sieht man den Monte Rosa blitzen. Heute reicht mir, was ich sehe.

Gedanken am Gipfel des Mont Chaberton
Was der Berg mir sagt: Krieg bleibt sinnlos. Töten bleibt sinnlos. Wehrlos zu sein, ist aber auch keine Lösung. Berge lehren Wehrhaftigkeit ohne Aggression: Wer Kraft hat, bleibt standhaft. Für mich heisst das: Tüchtigkeit, Fitness, Technik. Nicht, um anzugreifen – sondern um standhalten zu können. Si vis pacem, para bellum. Ich spüre den Appell zu trainieren – Körper, Geist und Motorik. Der Feind im Inneren ist die Trägheit. Übung hält dagegen.
Die Abfahrt holt mich in die Gegenwart. Ab dem Col du Chaberton zieht der Trail Richtung Montgenèvre: Stufen, verblockte Stücke, stellenweise ausgesetzt. Zwei Finger an der Bremse, Blick zehn Meter voraus – volle Aufmerksamkeit. Unten ändert der Hang den Takt: Flow. Die Sonne hängt tief, das Tal nimmt das Licht an. So endet ein Tag, der mit Stacheldraht begann.

Das Susatal ist facettenreich. Alpinismus lässt sich hier auf viele Arten leben: zu Fuss, mit Kletterschuhen am Fels – und auf dem Bike. Auch 4×4-Abenteurer kommen auf ihre Kosten. Das Tal wirkt wie ein grosser Spielplatz – und wie ein Fenster in die Vergangenheit: Die Bergflanken sind gesäumt von alten Militärstellungen. Ein harter Kontrast zwischen damals und heute, zwischen der Beklemmung des Kriegs und der Freiheit, die wir hier oben spüren. Eine Erfahrung, die bleibt.
Infos zur Tour:
• Start: Fenils (Val di Susa)
• Ziel: Mont Chaberton (3.131 m) – planierte Gipfelplatte mit Turmstümpfen
• Höhenmeter: ca. 1.900 Hm (ab Fenils)
• Schlüsselstellen: „gespaltener Fels“ (Fixseil, ausgesetzt), steiles Schlussstück ab Col du Chaberton (~400 Hm bis Gipfel)
• Untergrund: loser Schotter, Geröll, verfallene Militärtrasse → teils nur Reifenbreite
• Saison: Hochsommer–Frühherbst; morgens starten (Kälte/ Gewitter)
• Regeln: ehemalige Militärstrasse für Motorfahrzeuge gesperrt; Sperrzeiten & lokale Hinweise beachten
• Ausrüstung: warme Layer, Handschuhe, 2–3 l Wasser, Riegel, Notfall-Kit und Mini-Toolbox
• Hinweis: Monte-Rosa-Sicht nur an aussergewöhnlich klaren Tagen